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Neuroathletik Assessments: Warum Scheitern zur Individualität gehört


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Wenn Demonstrationen nicht funktionieren und warum das die beste Lektion ist

Kürzlich leitete ich ein Neuroathletik-Seminar in einer Physiotherapiepraxis. Wie so oft wollte ich die Kraft des neurozentrierten Trainings durch Live-Demonstrationen zeigen – jene beeindruckenden Momente, in denen sich durch gezielte neurologische Interventionen sofort messbare Verbesserungen zeigen. Doch dann geschah etwas, das viele Trainer oder Therapeuten als peinlich empfinden würden: Bei zwei Probanden funktionierten meine Assessments überhaupt nicht wie geplant.

 

Für mich war dies jedoch kein Moment der Blamage, sondern ein perfektes Beispiel für eine der wichtigsten Erkenntnisse im neurozentrierten Training: Jeder Mensch ist neurologisch einzigartig, und was bei den meisten funktioniert, braucht bei manchen andere Rahmenbedingungen.

 

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Die beiden Situationen

Erste Probandin: Eine junge, sehr mobile Frau mit leicht eingeschränkter linker Schulterinnenrotation. Ich vibrierte ihre linke Hüfte, um über den Kreuzreflex die rechte Schulterrotation zu verbessern – ein kontralateraler Ansatz, der bei den meisten Menschen schnell funktioniert. Ergebnis? Kaum Veränderung.

 

Zweiter Proband: Ein junger Mann, bei dem ich die Stabilutät bei Pushups verbessern wollte. Ich nutzte Konvergenzübungen (Pencil Push-ups), bei denen man einen Stift zur Nasenspitze bewegt und fokussiert bleibt. Dabei fiel mir auf, dass sein linkes Auge etwas faul war. Nachdem ich gezielt mit dem linken Auge gearbeitet hatte, verbesserte sich die Konvergenz deutlich – beide Augen arbeiteten nun gleichwertig zusammen. Aber die Rumpfstabilität? Zeigte keine Veränderung. Erst als ich eine Rasterbrille einsetzte, wurde er stabiler und kraftvoller.

Zwei Demonstrationen, bei denen die Dinge nicht sofort klappten. Und genau das macht sie zu perfekten Lehrbeispielen.

 

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Warum ich diese Interventionen gewählt hatte

Lass mich kurz erklären, warum diese Ansätze normalerweise funktionieren – denn das ist wichtig zu verstehen.

 

Der Kreuzreflex ist ein spinaler Mechanismus: Die Aktivierung auf einer Körperseite beeinflusst die gegenüberliegende Seite. Bei den meisten Menschen greift dieser Reflex zuverlässig, weshalb kontralaterale Stimulationen (wie Hüfte links → Schulter rechts) oft sofort Verbesserungen bringen.

 

Die Konvergenz zur Nasenspitze aktiviert den Nervus oculomotorius (N. III), dessen Kerngebiete im Mittelhirn liegen. Die Aktivierung des Mittelhirns erhöht über retikulospinale Bahnen den Grundtonus der Flexoren. Da viele Core-Muskeln Flexoren sind, führt das bei den meisten Menschen unmittelbar zu besserer Stabilität und damit mehr Kraft.

 

Das sind keine esoterischen Tricks – das sind nachvollziehbare neurologische Mechanismen, die gut dokumentiert sind.

 

Aber – und hier wird es interessant – "bei den meisten Menschen" bedeutet eben nicht "bei allen Menschen".

 

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Was gescheiterte Assessments wirklich bedeuten

Man liest manchmal in Social Media oder anderen Quellen: "Wenn ein Neuro-Drill im Assessment nicht funktioniert, ist er schlecht für dich." Das ist grundlegend falsch.

 

Wenn ein Assessment nicht funktioniert, bedeutet das nicht, dass der Drill schlecht ist. Es bedeutet: Die Rahmenbedingungen stimmen noch nicht.

 

Und hier beginnt die eigentliche Arbeit des individuellen Trainings.

 

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Rahmenbedingungen – Der Schlüssel zur Individualität

 

Wenn ein Assessment nicht funktioniert, bedeutet das: Die Rahmenbedingungen stimmen noch nicht.

Im neurozentrierten Training greifen wir als Erstes zu zwei möglichen Variablen: Dosierung und Stacking. Lass uns schauen, was das ist und wie das umgesetzt wird.

 

Die Dosierung (Minimal Effective Dose)

Die optimale Dosierung ist höchst individuell. Manchmal funktionieren 3 Sekunden sanfte Vibration besser als 20 Sekunden mit voller Intensität. Bei Leistungssportlern oder Kampfkünstlern kann es genau umgekehrt sein – manche von ihnen reagieren besser auf intensivere, sogar unangenehme Reize, bei denen andere Menschen schlechter abschneiden würden.

Es kann an vielen Faktoren liegen:

            •          Geschwindigkeit der Stimulation

            •          Intensität (sanft bis stark)

            •          Lichtverhältnisse

            •          Dauer der Intervention

            •          Art des Reizes

Die Kunst liegt darin herauszufinden, auf welche Reize das Nervensystem am besten reagiert.

Stacking (Mehrfachaktivierung)

Statt einer einzelnen Intervention mehrere kombinieren, die neurologisch zum gleichen Ziel gehören oder sich gegenseitig unterstützen. Zum Beispiel: Vibration an der Hüfte und gleichzeitig die Person eine Schulterflexion machen lassen. Oder während der Vibration Augenbewegungen einbauen, die diese Bewegung neurologisch unterstützen – wenn jemand die linke Schulter in Extension bewegt, können Augensprünge nach oben links die Aktivierung verstärken. Stacking bedeutet, dem Nervensystem mehrere Inputs zu geben, die in die gleiche neurologische Richtung wirken – und manchmal ist genau diese Kombination der Schlüssel.

 

Das sind Faktoren, die wir systematisch variieren können. Manchmal findet man schnell die richtige Kombination, manchmal braucht es mehrere Anläufe und Experimente.

Im Seminar kann man Glück haben mit den Probanden, manchmal auch nicht. In meinem Fall zeigten die beiden Probanden nicht die Ergebnisse, die ich demonstrieren wollte. Aber – und das ist wichtig – das bedeutet nicht, dass neurozentriertes Training nicht funktioniert. Es bedeutet lediglich, dass man hier alle möglichen Rahmenbedingungen einzeln hätte testen müssen, bis man die richtigen gefunden hätte.

Hinzu kommt: Vor einer Gruppe zu stehen bedeutet für viele Menschen Stress. Manche gehen entspannt damit um, andere fühlen sich unwohl und sind angespannt – ob sie das bewusst wahrnehmen oder nicht. All das sind Variablen, die das Nervensystem beeinflussen und mitentscheiden, ob ein Assessment gelingt oder nicht.

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Die wichtigste praktische Regel: Nicht als Warm-up nutzen

Und hier kommt ein entscheidender Punkt, der oft übersehen wird:

 

Wenn ein Neuro-Drill keine Verbesserung zeigt oder sogar dazu führt, dass sich das ursprüngliche Assessment verschlechtert hat, darf dieser Drill NICHT als Warm-up vor Training oder maximaler Belastung verwendet werden.

 

Warum ist das so wichtig?

 

Das Nervensystem kann diesen Drill in diesem Moment nicht gewinnbringend verarbeiten. Wenn du ihn trotzdem vor einer Belastung machst, wird er das Nervensystem zusätzlich belasten statt vorbereiten. Das erhöht das Verletzungsrisiko, weil das Nervensystem nicht optimal reguliert ist.

 

Die richtige Vorgehensweise:

Trainiere diese Neuro-Drills separat – in einem Kontext, wo das Nervensystem Zeit hat, sie zu integrieren:

·       An trainingsfreien Tagen

·       Als eigenständige Übungseinheit

·       Mit angepassten Rahmenbedingungen (reduzierte Dosis, anderes Stacking, andere Position)

·       OHNE anschließende maximale Belastung

 

So gibst du dem Nervensystem die Möglichkeit, neue Verschaltungen aufzubauen, ohne es zu überfordern. Und nach Wochen systematischen, separaten Trainings kann genau dieser Drill zu einem deiner besten Warm-ups werden.

 

Das ist der Unterschied zwischen "dieser Drill funktioniert nicht bei mir" und "dieser Drill braucht bei mir andere Rahmenbedingungen und Zeit zur Integration".

 

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Individualität ist keine Phrase, sondern Biologie

Jeder Mensch ist neurologisch einzigartig. Das ist keine esoterische Aussage, sondern biologische Realität.

 

Dein Nervensystem ist geprägt durch:

·       Deine gesamte Bewegungsgeschichte

·       Frühere Verletzungen und wie du damit umgegangen bist

·       Wie du Bewegung gelernt hast

·       Deine Trainingshistorie

·       Deine aktuellen Kompensationsmuster

·       Deinen Alltag, deinen Stress, deine Gewohnheiten

 

All das formt, wie dein Nervensystem auf Interventionen reagiert.

 

Was bei Person A in 10 Sekunden funktioniert, kann bei Person B Wochen systematischer Arbeit brauchen. Und bei Person C funktioniert vielleicht ein ganz anderer Weg besser.

 

Das ist nicht gut oder schlecht. Das ist einfach Realität.

 

Die Interventionen, die ich im Seminar zeige, funktionieren bei vielen Menschen schnell – deshalb nutze ich sie für Demonstrationen. Aber "bei vielen" heißt nicht "bei allen". Und genau das macht neurozentriertes Training wertvoll: Es respektiert diese Individualität, statt sie mit Standardprotokollen zu ignorieren.

 

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Die Perspektive ändern: Assessment als Information

Ein Assessment ist kein Test, den man "besteht" oder "nicht besteht". Ein Assessment ist eine Informationsquelle.

 

Funktioniert der Drill sofort? Gut – wir können ihn direkt nutzen, vielleicht sogar als Warm-up.

 

Funktioniert er nicht oder verschlechtert sich das Assessment? Auch gut – jetzt wissen wir, wo Arbeit nötig ist. Wir trainieren ihn separat, passen die Rahmenbedingungen an, geben dem Nervensystem Zeit.

 

Beide Ergebnisse sind wertvoll. Beide geben uns Information. Beide leiten uns in der Trainingsgestaltung.

 

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Was du aus diesen beiden Fällen mitnehmen solltest

1. Gescheiterte Assessments sind keine Blamage

Sie sind Demonstrationen der neurologischen Individualität jedes Menschen. Sie zeigen, dass wir mit echten Menschen arbeiten, nicht mit Lehrbuch-Beispielen.

 

2. Verstehe die Mechanismen

Wenn du weißt, WARUM ein Drill funktionieren sollte (Kreuzreflex, N. III → Mittelhirn → retikulospinale Bahnen → Flexoren), kannst du besser anpassen, wenn er nicht sofort funktioniert.

 

3. Rahmenbedingungen sind der Schlüssel

Dosis, Stacking, Position, Zeitpunkt – all das kannst du variieren. Das Nervensystem braucht manchmal nur eine kleine Anpassung.

 

4. Zeit und Kontext sind entscheidend

Im Seminar fehlt die Zeit für individuelle Anpassung. In der Einzelarbeit ist sie da. Das ist der Unterschied zwischen Prinzipien zeigen und Lösungen finden.

 

5. Trenne Warm-up und Training

Neuro-Drills, nach denen sich das ursprüngliche Assessment verschlechtert hat, nicht vor Belastung nutzen. Separat trainieren, um dem Nervensystem Zeit zur Integration zu geben und Verletzungen zu vermeiden.

 

6. Geduld und Systematik

Neurologische Anpassungen brauchen Zeit. Was heute nicht funktioniert, kann nach Wochen systematischen, separaten Trainings dein bestes Tool werden.

 

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Zurück zu den beiden Probanden

 

Neurozentriertes Training respektiert Individualität. Es gibt keine Universal-Formel. Es gibt Prinzipien, die wir verstehen – aber die praktische Umsetzung ist so individuell wie die Menschen selbst.

 

Und genau das macht diese Arbeit so spannend. Genau das unterscheidet echtes neurozentriertes Training von Standard-Protokollen, die jeder gleich absolviert.

 

Die junge Frau und der junge Mann haben mir die Möglichkeit gegeben, das zu zeigen – nicht trotz der "gescheiterten" Assessments, sondern genau deswegen.

 

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Über die Autorin

Irina ist Neuro Coach und spezialisiert auf neurozentriertes Training und Neuroathletik. In ihren Seminaren für Sportprofis, Bewegungstrainer, Pädagogen und Therapeuten vermittelt sie, wie neurologische Ansätze Bewegung, Konzentration und Gesundheit verbessern können – immer mit Fokus auf Individualität, praktische Anwendbarkeit und ehrliche Realität.

 

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