Warum durch die Nase ein- UND ausatmen? Neurologische Erkenntnisse aus meinem Seminar für Bewegungsprofis
- Irina Lamprecht
- 23. Nov.
- 6 Min. Lesezeit

Ein Wochenende voller Aha-Momente
Vergangenes Wochenende durfte ich wieder ein Seminar zum Thema "Mit neurozentriertem Training Bewegungskurse smarter und wirksamer gestalten" durchführen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer – allesamt erfahrene Dozentinnen und Dozenten aus dem Bereich Gesundheit und Bewegung – brachten wie immer großartige Fragen und spannende Diskussionen mit. Doch eine Debatte entwickelte sich unerwartet intensiv: die Frage nach der richtigen Atmung in Bewegungskursen.
Besonders das Thema Nasenatmung sorgte für heftige Diskussionen. Viele Pilates-Trainerinnen im Raum waren irritiert: Sie hatten gelernt, durch den Mund auszuatmen – und nun sollte plötzlich auch das Ausatmen durch die Nase erfolgen? Was steckt aus neurologischer Sicht wirklich dahinter? In diesem Artikel teile ich die Erkenntnisse aus der modernen Neurologie, die zeigen, warum nasale Atmung nicht nur beim Einatmen, sondern auch beim Ausatmen so wertvoll für unser Nervensystem ist.
Die zentrale Frage: Warum überhaupt Nasenatmung?
Bevor wir in die Tiefe gehen, lass uns die Grundfrage klären: Warum empfiehlt die neurozentrierte Herangehensweise überhaupt die Atmung durch die Nase – besonders in ruhigen Bewegungskursen wie Yoga, Pilates, oder funktionellem Training, wo es nicht um Leistung oder intensive Cardio-Einheiten geht?
Die Antwort liegt tief in unserem Nervensystem verankert. Unsere Nase ist weit mehr als nur ein Luftkanal – sie ist ein hochspezialisiertes Sinnesorgan mit direkter Verbindung zu unserem Gehirn und autonomen Nervensystem.
Die Nasenhöhle als neurologisches Schaltzentrum
In unserer Nasenhöhle befinden sich Millionen von Rezeptoren, die bei jedem Atemzug aktiviert werden. Diese Rezeptoren senden kontinuierlich Signale an verschiedene Gehirnareale:
1. Der Nervus trigeminus (Hirnnerv V)
Dieser Nerv durchzieht die gesamte Nasenschleimhaut und reagiert auf Temperatur, Druck und Luftströmung. Bei nasaler Atmung werden seine Rezeptoren sanft stimuliert, was dem Gehirn signalisiert: "Alles ist sicher, wir atmen ruhig und kontrolliert." Diese Information erreicht direkt das autonome Nervensystem und fördert die parasympathische Aktivität – also unseren Entspannungs- und Regenerationsmodus.
2. Das olfaktorische System (Riechsystem)
Auch wenn wir in neutraler Umgebung atmen, wird unser Riechsystem aktiviert. Der Nervus olfactorius (Hirnnerv I) hat eine direkte Verbindung zum limbischen System – unserem emotionalen Zentrum im Gehirn. Das limbische System umfasst Strukturen wie die Amygdala (zuständig für Bedrohungswahrnehmung) und den Hippocampus (zuständig für Gedächtnis und Kontextverarbeitung).
Diese direkte Verbindung ist evolutionär extrem alt und mächtig. Nasale Atmung sendet kontinuierlich die Botschaft an diese Strukturen: "Die Umgebung ist sicher." Dies reduziert die Aktivität der Amygdala und fördert einen Zustand innerer Ruhe.
3. Der präfrontale Cortex und die Insula
Neuere Studien zeigen, dass nasale Atmung auch Bereiche des präfrontalen Cortex beeinflusst – jenen Bereich, der für exekutive Funktionen, bewusste Steuerung und Emotionsregulation zuständig ist. Die Insula, ein Bereich tief im Gehirn, der für Körperwahrnehmung (Interozeption) zuständig ist, wird durch bewusste Nasenatmung ebenfalls aktiviert. Dies verbessert unsere Fähigkeit, Körpersignale wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren.
Die Stickstoffmonoxid-Verbindung: Ein Gamechanger
Ein weiterer entscheidender Faktor, warum Nasenatmung so wirksam ist, liegt in der Produktion von Stickstoffmonoxid (NO) in unseren Nasennebenhöhlen. Dieses Molekül hat erstaunliche Eigenschaften:
✓ Gefäßerweiterung: NO erweitert die Blutgefäße, was die Sauerstoffaufnahme im gesamten Körper verbessert – auch im Gehirn
✓ Antibakterielle Wirkung: Es schützt die Atemwege vor Krankheitserregern
✓ Bronchodilatation: Es erweitert die Atemwege und erleichtert die Atmung
✓ Neurologische Effekte: NO wirkt als Neurotransmitter und beeinflusst die neuronale Kommunikation
Wenn wir durch die Nase atmen, wird dieses NO mit jedem Atemzug in die Lungen transportiert. Bei Mundatmung geht dieser Effekt komplett verloren.
Die Kontroverse: Warum auch durch die Nase AUSatmen?
Hier wurde es in meinem Seminar richtig spannend. Viele Teilnehmerinnen fragten: "Okay, Einatmen durch die Nase verstehe ich – aber warum auch ausatmen? In Pilates lernen wir doch, durch den Mund auszuatmen!"
Diese Frage ist absolut berechtigt, denn viele traditionelle Bewegungsmethoden haben das Ausatmen durch den Mund etabliert. Doch aus neurozentrierter Sicht gibt es gute Gründe, auch beim Ausatmen bei der Nase zu bleiben – zumindest in ruhigen, nicht-leistungsorientierten Kontexten.
Der Vagusnerv und die Ausatmungsphase
Der Vagusnerv (Hirnnerv X) ist der Hauptnerv unseres parasympathischen Nervensystems. Er läuft vom Hirnstamm bis hinunter in den Bauchraum und innerviert unter anderem das Herz, die Lunge und den Verdauungstrakt. Das Ausatmen ist DIE Phase, in der der Vagusnerv am stärksten aktiviert wird.
Wenn wir durch die Nase ausatmen, passiert Folgendes:
1. Längere Ausatmungsphase
Die Nase bietet einen natürlichen Widerstand, der die Ausatmung verlangsamt. Diese verlängerte Ausatmung verstärkt die Vagusstimulation und sendet starke Entspannungssignale an das Gehirn.
2. Kontrolle über den Luftstrom
Durch den Nasenausgang haben wir feinere Kontrolle über den Ausatemstrom. Dies aktiviert verschiedene Mechanismen im Hirnstamm, die die Atemregulation steuern – insbesondere in der Medulla oblongata und dem Pons.
3. Sensorisches Feedback
Die Rezeptoren in der Nase geben während des gesamten Atemzyklus – Ein- UND Ausatmung – sensorisches Feedback an das Gehirn. Dies schafft einen geschlossenen sensorischen Loop, der dem Nervensystem kontinuierlich Informationen über den Atemzustand liefert.
4. Stabilisierung des CO₂-Levels
Durch die Nase auszuatmen verhindert übermäßigen CO₂-Verlust. Ein ausgeglichener CO₂-Level ist wichtig für die Sauerstoffabgabe an die Zellen (Bohr-Effekt) und für die pH-Regulation im Blut. Chronische Mundatmung führt oft zu niedrigen CO₂-Werten, was paradoxerweise die Sauerstoffversorgung verschlechtert und das Nervensystem in einen Alarmzustand versetzen kann.
Mundatmung aktiviert den Sympathikus
Im Gegensatz dazu aktiviert Mundatmung – besonders beim Ausatmen – tendenziell den Sympathikus, unser "Kampf-oder-Flucht"-System. Warum? Evolutionär gesehen atmen wir durch den Mund, wenn wir in Bewegung sind, fliehen oder kämpfen müssen. Das Gehirn interpretiert Mundatmung daher als Signal für "Aktivität erforderlich" oder sogar "Gefahr möglich".
In einem ruhigen Pilates- oder Yoga-Kurs wollen wir aber genau das Gegenteil erreichen: Entspannung, innere Ruhe, Regeneration und bewusste Bewegungssteuerung. Hier konterkariert Mundatmung unser eigentliches Ziel.
Der wichtige Unterschied: Stimmbildung und Ausatmen mit Widerstand
Jetzt kommt der entscheidende Punkt, der für Verwirrung sorgt: Warum wird dann in der Stimmbildung oft durch den Mund ausgeatmet? Und warum nutzen viele Atemübungen bewusst das Ausatmen durch den Mund?
Die Antwort liegt in der Intention und im Widerstand:
Ausatmen mit Tönen (Stimmbildung)
Wenn wir Töne erzeugen – sei es beim Singen, Summen oder bei spezifischen Atemübungen wie "Bienensummen" (Bhramari) – geschieht etwas Besonderes:
1. Vibration der Stimmlippen
Die Vibration der Stimmlippen erzeugt eine mechanische Stimulation des Vagusnervs. Dies ist ein direkter, mechanischer Reiz, der stark beruhigend wirkt.
2. Kontrolle über die Ausatmung
Beim Tönen haben wir automatisch einen kontrollierten, langsamen Ausatemstrom – ähnlich wie bei der Nasenatmung. Der Unterschied ist: Wir nutzen die Stimme als "Widerstand".
3. Bewusste Aktivierung
Stimmbildungsübungen werden bewusst eingesetzt, um bestimmte neurologische Effekte zu erzielen. Sie sind Teil einer gezielten Intervention, nicht die Standard-Atmung während der Bewegung.
Ausatmen mit Widerstand (z.B. Lippenbremse)
Ähnlich verhält es sich mit Atemtechniken, die bewusst einen Widerstand beim Ausatmen durch den Mund nutzen – wie die Lippenbremse (pursed-lip breathing):
✓ Der Widerstand verlängert die Ausatmung (ähnlich wie die Nase)
✓ Er erhöht den Druck in den Atemwegen und stabilisiert diese
✓ Er fördert die parasympathische Aktivität durch die verlängerte Ausatmungsphase
Diese Techniken sind gezielte therapeutische oder trainingsbegleitende Interventionen. Sie ersetzen nicht die Grundatmung, sondern ergänzen sie in spezifischen Kontexten.
Der Kern der Unterscheidung
Der entscheidende Unterschied ist:
✓ Nasenatmung ist die neurologisch optimale Standard-Atmung für ruhige Bewegungssituationen – sie sollte die Basis sein
✓ Mundatmung mit Tönen oder Widerstand sind spezifische Techniken für gezielte Effekte – sie sind Tools, die wir bewusst einsetzen
In einem Pilates- oder Yoga-Kurs, wo es um kontinuierliche, fließende Bewegungen geht, ist die Nasenatmung die neurologisch sinnvollere Wahl. Wenn wir zwischendurch eine spezifische Atemübung mit Tönen einbauen, ist das eine bewusste, zeitlich begrenzte Intervention mit einem anderen Ziel.
Praktische Anwendung für Bewegungskurse
Wie können Kursleiterinnen und Kursleiter diese Erkenntnisse nun umsetzen?
1. Nasenatmung als Standard etablieren
Erkläre deinen Teilnehmenden, warum Nasenatmung vorteilhaft ist – nicht als dogmatische Regel, sondern als neurologisch fundierte Empfehlung. Viele Menschen atmen unbewusst durch den Mund, besonders wenn sie sich konzentrieren. Ein sanfter Hinweis kann hier schon viel bewirken.
2. Den Unterschied zu alten Techniken erklären
Viele Pilates-Trainierende sind verwirrt, weil sie etwas anderes gelernt haben. Erkläre, dass traditionelle Ansätze nicht "falsch" waren, aber moderne neurologische Erkenntnisse neue Perspektiven bieten. Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um: Was unterstützt das Nervensystem am besten in diesem Kontext?
3. Gezielte Atemübungen einbauen
Nutze bewusst Momente, in denen du spezifische Atemtechniken mit Tönen oder Widerstand einbaust – als besondere Übungen, nicht als Standard-Atmung. Beispiele:
✓ Summen am Ende der Stunde zur Beruhigung
✓ Lippenbremse bei Teilnehmenden mit Atemproblemen
✓ Seufzer-Ausatmung durch den Mund als Release-Technik
4. Individuelle Bedürfnisse respektieren
Nicht jeder kann sofort durch die Nase atmen – manche haben anatomische Einschränkungen (Nasenscheidewandverkrümmung, chronische Verstopfung). Hier ist Sensibilität gefragt. Die Empfehlung ist ein Ideal, aber kein Zwang.
5. Selbst vorleben
Als Kursleiter bist du Vorbild. Wenn du selbst durch die Nase atmest (auch beim Anleiten!), nehmen deine Teilnehmenden das unbewusst wahr und imitieren es.
Zusammenfassung: Was nehmen wir mit?
Die Diskussion in meinem Seminar hat gezeigt, wie wichtig es ist, nicht nur was wir tun zu verstehen, sondern auch warum wir es tun. Die neurozentrierte Perspektive auf Atmung basiert auf soliden neurologischen Erkenntnissen:
✓ Nasenatmung (Ein- und Ausatmen) ist die neurologisch optimale Basis-Atmung in ruhigen Bewegungskursen, weil sie das parasympathische Nervensystem aktiviert, wichtige Gehirnareale stimuliert und die Sauerstoffversorgung optimiert.
✓ Mundatmung hat ihren Platz – aber als gezielte Technik mit Tönen oder Widerstand, nicht als Standard-Atmung.
✓ Der Unterschied liegt im Kontext: Kontinuierliche Bewegung mit Nasenatmung, gezielte Interventionen mit spezifischen Atemtechniken.
✓ Alte Methoden sind nicht falsch – sie hatten nur noch nicht Zugang zu den neurologischen Erkenntnissen, die wir heute haben.
Als Bewegungsprofis ist es unsere Aufgabe, mit dem aktuellen Wissensstand zu arbeiten und unseren Teilnehmenden die bestmöglichen Bedingungen für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu schaffen. Die Atmung ist dabei einer der mächtigsten Hebel, die wir haben – nutzen wir ihn weise.
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Über die Autorin:
Irina ist Neurotrainerin und spezialisiert auf neurozentrierte Ansätze zur Verbesserung von Bewegung, Konzentration und Gesundheit. Sie bietet Seminare für Bewegungsprofis und Einzelcoachings im deutschsprachigen Raum an.



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